Die ersten Christen, die in unserer Gegend den neuen Glauben verkündeten, waren die Geschwister Felix und Regula mit ihrem Begleiter und Diener Exuperantius. Sie waren wegen ihres Glaubens aus dem Wallis vertrieben worden. In einer Hütte am Ufer der Limmat führten sie ein frommes Leben und versuchten, die Heiden vom Aberglauben und Götzendienst zu befreien.
Das vernahm der römische Statthalter Decius, der in einer Burg auf dem Lindenhof wohnte. Er hasste den christlichen Glauben. Eines Tages, als Felix und Regula in ihrer Hütte beteten, wurden sie samt ihrem Gefährten gefangengenommen. Die Knechte führten sie auf die Burg vor ihren Herrn. Der forderte sie auf, den christlichen Glauben abzuschwören und den heidnischen Göttern zu opfern. Aber die frommen Geschwister sagten: «Wir opfern deinen Göttern nicht und beten deine Götter nicht an, sondern den allmächtigen Gott, unsern Heiland.» Der Statthalter drohte, er werde sie quälen und peinigen. Aber die Geschwister erwiderten: «Unsere Leiber hast du in deiner Gewalt, aber unsere Seelen nicht.» Da wurden alle drei an Säulen gebunden und mit Peitschen und eisernen Stäben blutig geschlagen. Doch sie klagten nicht, sondern priesen Gott und sprachen: «Wir danken dir, Herr Gott, Jesus Christus, dass wir um deines Namens willen so viel leiden dürfen.»
Als nun Decius sah, dass sie trotz allen Martern standhaft blieben, befahl er, man solle die Gefangenen ans andere Ufer hinüberführen und mit dem Beile enthaupten. Mit erhobenen Händen blickten sie noch gegen den Himmel und riefen: «Barmherziger Gott, nimm unser Haupt gnädig zum Opfer an!» Dann beugten sie sich nieder auf den Block und empfingen den Todesstreich. Doch siehe, die Enthaupteten nahmen die blutigen Häupter auf ihre Arme und schritten durch die erschrockene Menge zum nahen Hügel hinan. Dort wurden sie dann begraben. Sie waren ihrem Glauben treu geblieben bis in den Tod.

- fromm: gläubig, anständig, ehrlich
- Heiden: In der früheren christlichen Lehre sind es Personen, die nicht im christlichen Glauben getauft und keine Juden sind
- Aberglaube: falscher Glaube an die Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte
- Götzendienst: Verehrung eines Götzen. Götzen sind Gegenstände oder Wesen, welche als Gott verehrt werden
- Statthalter: oberster Beamter, Vertreter der Regierung
- heidnisch: für die Heiden charakteristisch, ihrer Art entsprechend
- Leiber (Einzahl: Leib): Körper
- Marter: Folter, Leiden
- enthaupten: jemandem den Kopf abschlagen
- barmherzig: mitfühlend, Verständnis für die Not anderer zeigend
- gnädig: freundlich, gutgesinnt
- den Todesstreich empfangen: es wurde ihnen der Kopf abgeschlagen
- Enthauptete: Personen, denen der Kopf abgeschlagen wurde
- Häupter (Einzahl: Haupt): Köpfe
Als Kaiser Karl, da er noch König war, einst von der Stadt Köln aus auf die Jagd geritten war, stiess er auf einen grossen, schönen Hirsch, wie er in seinem Leben noch keinen gesehen hatte. Dem jagte er nach, in der Meinung, ihn zu fangen. Er verfolgte ihn so lange, dass er mit seinem Gesinde im Walde übernachten musste. Am folgenden Tage fand er den Hirsch wieder. Aber der führte ihn den ganzen Tag über Berg und Tal. Er kam dem König so manchmal zu Gesicht, dass dieser sich vornahm, nicht abzulassen, bis er den Hirsch stellen könne, koste es, was es wolle.
Also jagte er ihm nach, von Köln bis nach Zürich. Einen halben Rosslauf ob dem Schloss Turicum, jenseits des Wassers, fiel der Hirsch auf die Knie. Desgleichen taten auch die Hunde und wollten nicht weiter laufen. Dieses Wunder berichteten die Jäger dem König, der eilends herbei ritt, um es zu sehen. Als die Pferde herzukamen, fielen sie auch auf die Knie. Da verstand der König wohl, dass Gott ihm den Hirsch gesandt weil er hier ein Wunder wirken wollte. Karl stieg von seinem Pferde und bat Gott, er möge ihm seinen Willen offenbaren. Alsbald erschienen zwei Einsiedler, welche in dieser Gegend wohnten. Sie sagten, dass da drei Heilige begraben lägen, die vormals um des christlichen Glaubens willen gemartert worden wären. Da nahm der Kaiser in Stadt und Schloss Turicum, die ja gleich dabei lagen, Wohnung. Er berief alle Priester des Landes und berichtete ihnen das grosse Wunder, das ihm begegnet war. Er liess graben und die Märtyrer suchen. Nachdem sie gefunden waren, wurden sie zu hohen Ehren erhoben und heiliggesprochen.
Über den Gräbern der Heiligen baute Karl der Grosse etliche Jahre später die Felix- und Regulakirche. Ihre Gebeine wurden hinter Gitterwerk in einem kostbaren Sarg aufbewahrt und als Heiligtümer verehrt. Altäre wurden errichtet, und täglich ertönten da Lobgesänge zur Ehre Gottes.

- Gesinde: die Knechte und Mägde des Kaisers
- nicht ablassen: nicht aufgeben
- den Hirsch stellen: den Hirsch zum Stehenbleiben zwingen
- einen halben Rosslauf: so viel, wie ein Pferd in einem Zug rennen kann; hier etwa 500 m
- offenbaren: mitteilen, zeigen
- Einsiedler: jemand, der für sich alleine, weit abgeschieden von anderen Menschen lebt und selten mit ihnen in Kontakt tritt
- Heilige: Personen, die ihr Leben lang sehr intensiv einen Glauben gelebt und ein vorbildliches Leben geführt haben und deshalb von den Gläubigen verehrt werden. Heilige gibt es in vielen Religionen
- gemartert: gefoltert
- Stadt und Schloss Turicum: Turicum ist der Name einer Siedlung aus römischer Zeit, die dort lag, wo das Zentrum der heutigen Stadt Zürich ist. Diese Stadt besass auch ein Schloss
- Märtyrer: Jemand, der sich für seine Überzeugung opfert oder Verfolgung auf sich nimmt
- jemanden zu hohen Ehren erheben: jemanden als sehr wichtig erachten und verehren
- heiligsprechen: in der römisch-katholischen Kirche bestimmt der Papst, dass eine bereits
- verstorbene Person als Heilige(r) bezeichnet und verehrt werden soll
- Gebeine: sterbliche Reste, besonders Knochen, Skelett eines Toten
- Heiligtümer: Gegenstände, Orte, Gebäude, die als heilig verehrt werden
- Altäre: erhöhte, einem Tisch ähnliche Aufbauten für religiöse Handlungen
Hoch oben auf dem Albisgrat stand einst die einsame Burg des Frankenkönigs Ludwig, die Baldern. Dort wohnten zuweilen seine beiden Töchter Hildegard und Berta. Das vornehme, laute Treiben auf der Pfalz gefiel ihnen nicht. Sie liebten das einfache Leben in der Stille und Abgeschiedenheit des Waldschlosses.
In der Nacht aber verliessen die frommen Schwestern die Burg, um in einer Kapelle der Stadt zu beten. Furchtlos legten sie den weiten Weg durch die Dunkelheit zurück. Da sandte ihnen Gott einen Hirsch, der zwei brennende Kerzen auf seinem Geweih trug. Allemal trat nun der wundersame Begleiter aus dem dunklen Tann, leuchtete ihnen auf dem schmalen Pfad hinunter zum Waldfluss voran und führte sie bis zur Au zwischen See und Aa. Immer an derselben Stelle blieb er stehen und wartete auf die frommen Frauen, die in der nahen Kapelle beteten. Vor Tag geleitete er sie wiederum zurück auf die Baldern, in deren Nähe er zwischen den Stämmen der Bäume verschwand. Hildegard und Berta sannen viele Stunden über das Wunder nach. Sie hielten es für ein Zeichen des Himmels, an jener Stelle, wo der Hirsch jeweils wartete, ein Gotteshaus zu bauen.
Als der König von den nächtlichen Wanderungen seiner Töchter erfuhr, folgte er ihnen heimlich und wurde des Wunders teilhaftig. Er rief die beiden zu sich und erforschte ihren Sinn. Doch dem König gefiel der Platz an der Aa nicht. Da erflehten die Schwestern von Gott ein Zeichen, wo das Gotteshaus erbaut werden sollte. Tag und Nacht vertieften sie sich in ihre Gebete, bis er sie erhörte und ein grünes Seil vom Himmel auf die Au herab sandte. Da erkannte der König, dass seine Töchter richtig gewählt hatten. Also liess er auf jenem Platze eine prächtige Kirche und ein Kloster für Edelfrauen errichten.

- Albis: Der Albis ist eine Bergkette im Kanton Zürich, die von Sihlbrugg bis zur Waldegg bei Zürich über etwa 19 Kilometer parallel zu Sihl und Zürichsee verläuft
- Frankenkönig: König des Fränkischen Reichs. Das Fränkische Reich war ein grosses Königreich in Mitteleuropa zwischen dem 5. und 9. Jahrhundert
- Pfalz: (im Mittelalter) dem deutschen König bzw. Kaiser u. a. als Gerichtsstätte dienender wechselnder Wohnsitz
- Kapelle: eine kleine, einfache Kirche
- allemal: immer, jedes Mal
- Tann: Wald
- Au: an einem Gewässer liegende saftige Wiese
- Aa: ursprünglicher Name des Flusses Limmat (häufiger Flussname)
- fromm: gläubig, religiös
- über etwas nachsinnen: über etwas nachdenken
- Gotteshaus: für den Gottesdienst bestimmtes Gebäude
- ihren Sinn erforschen: sie fragen, was ihr Wunsch ist
- erflehen: bitten
- erhören: einem Wunsch nachgeben
- Edelfrau: adlige Frau
Im Jahre 1292 zog der österreichische Herzog Albrecht mit einem starken Heere vor die Stadt, um sie wieder unter seine Herrschaft zu zwingen. Die Zürcher hatten kurz vorher in einem Gefecht bei Winterthur viele tapfere Bürger verloren. Albrecht hoffte darum, die Stadt ohne grosse Mühe erobern zu können. Er lagerte mit seinem Heere am Abhang des Zürichberges, an der Spanweid. Die Gefahr war gross. Niemand hatte an eine Belagerung gedacht, und es fehlte an Kriegsvolk.
In dieser Not entschlossen sich die Frauen, Harnische anzuziehen. Auf dem Münsterhof versammelten sie sich und traten, mit Schild und Speer versehen, in Reih und Glied. Dann schritt der Zug zum Klange der Trommeln und Pfeifen über die obere und untere Brücke, die Strehlgasse hinauf auf den Lindenhof. Hedwig ab Burghalden war die Anführerin. Sie stellten sich an die Brüstung und schwangen laut schreiend ihre Waffen gegen den Feind, um ihm zu zeigen, dass sie sich nicht fürchteten.
Herzog Albrecht beobachtete von seinem Lager aus, was auf dem Lindenhof vorging. Er glaubte, es sei viel Kriegsvolk in der Stadt. Da er aber für eine lange Belagerung nicht gerüstet war und ausserdem lieber die Freundschaft der wohlgerüsteten Stadt zu gewinnen suchte, schloss er Frieden und zog mit seinem Heere nach Winterthur zurück. Zürich war durch seine mutigen und entschlossenen Frauen und Töchter gerettet worden.

- Heer: Militär, Armee
- Kriegsvolk: Gesamtheit der Krieger, Soldaten
- Harnische: Ritterrüstungen
- Brüstung: Geländer
Auf einem Hügelvorsprung seitlich der Fallätsche stand noch vor sechshundert Jahren die Burg Manegg. Sie war lange Zeit der Wohnsitz der zürcherischen Ritterfamilien Manesse gewesen. Rüdiger Manesse, der erste Besitzer der Burg, war ein Freund der ritterlichen Sänger und Dichter und versuchte sich selbst in der Dichtkunst. Er sammelte eine Menge der schönsten Lieder und liess sie durch einen jungen gelehrten Mann namens Hadlaub abschreiben und mit den Bildern der Dichter versehen. So entstand ein prächtiges Liederbuch. Als die Familie Manesse in späteren Jahren ein Ritterhaus in der Stadt bezog, blieb die Burg gänzlich verlassen. Um das Jahr 1400 hauste in einer baufälligen Lehmhütte unten an der Falletsche ein gar sonderbarer Mensch. Er behauptete, ein Verwandter der Familie Manesse zu sein. Er richtete sich in den verlassenen Räumen der Burg ein und nannte sich Ritter Manesse von Manegg. Er band sich mit einem Strohwisch ein hölzernes Schwert um den Leib und strich damit in der Gegend herum. In diesem Aufzuge erschien der «Butz Falätscher» – so nannte man ihn – auch etwa in der Stadt. Wegen der närrischen Reden, die er führte, und weil er dazu seltsame Gesichter schnitt, war er besonders auf den Trinkstuben stets willkommen.
Fastnacht 1409 war gekommen. In allen Zunftstuben waren die Bürger beim Schmause versammelt. Auf dem Rüden sassen die Junker mit all ihren Freunden. Nur der Narr war nicht da, der sonst nie fehlte. Da wurden die jüngeren Gesellen einig, aufzubrechen und dem Narren eine lustige Fehde zu bereiten. Sie wollten sein Schloss belagern und erstürmen und zugleich das kostbare Buch wieder holen, das der Narr einst aus der Zunftstube hatte entwenden können. Unter Trommelschlag und Pfeifenklang und mit Fackeln versehen zogen die Gesellen aus der Stadt. Auf einem Karren führten sie ein Fass Wein mit. Mitternacht war schon vorüber, als die mutwillige Schar bei der Manegg anlangte. Trommelschlag, Lärm und Gesang weckten den Narren auf, der den Wald rings von Fackeln erhellt sah. Wie der Blitz fuhr er mit einem Lichtlein in der Burg umher. Bald war er hier, bald dort in den Sälen und zuletzt zuoberst im Turm. Da stand gerade eine Anzahl Männer auf der Schlossbrücke und pochte donnernd an das Tor. Der aber klopfte, war ein grosser Mann in einer Bärenhaut. Entsetzt floh der Narr wieder zurück, denn er glaubte, die ganze Hölle sei vor der Türe. Da wurde das Tor mit einer alten Geländerstange von der Brücke eingestossen, und der Bär drang hinein, um den Narren einzufangen. Zu gleicher Zeit schleuderte auf einer andern Seite der Burg ein Unbesonnener seine Fackel in ein Fenster. Unglücklicherweise fiel sie in das Innere des Gemaches auf das warme Heulager des Narren und entzündete es. Da eben ein starker Föhnwind blies, stand die alte morsche Burg bald in Flammen. Der Narr irrte mit erbärmlichem Geschrei zwischen dem Feuer und dem Bären hin und her. Immer aber schleppte er das gestohlene Buch mit sich und umklammerte es krampfhaft. Mit grosser Mühe brachte ein mutiger und gewandter junger Mann den Narren samt dem Buche aus der brennenden Burg. Doch der Narr war – tot.
In weitem Ringe sitzend, tranken die Gesellen schweigend ihren Wein und betrachteten den Untergang der Burg, die jetzt in vollen Flammen zum Himmel lohte.

- Fallätsche: Felsabhang am Uetliberg
- Strohwisch: Bündel kleiner Besen aus Stroh
- närrisch: eigenartig, komisch
- Trinkstuben: Orte zum Ausschank von Getränken im Mittelalter (z. B. Gasthäuser)
- Zunftstuben: Trefflokale der Mitglieder einer Zunft
Eine Zunft war ein Zusammenschluss von Personen, die denselben Beruf ausüben (z. B. Schuhmacher). Im Mittelalter gab es besonders viele Zünfte - Sechseläuten: Zug der Zünfte durch die Innenstadt von Zürich und gegenseitige Zunftbesuche am Abend
- Schmaus: reichhaltige Mahlzeit, Essen
- Rüde: männlicher Hund; hier: heute noch bestehendes «Zunfthaus zum Rüden» am Zürcher Limmatquai, es gehört der Gesellschaft zur Constaffel, das Wappentier ist ein Hund
- Junker: junger Edelmann, Adliger
- Narr: törichter, komischer Mensch
- Geselle: Handwerker, der nach einer Lehrzeit die Gesellenprüfung abgelegt hat
- Fehde: kämpferische Auseinandersetzung
- mutwillig: absichtlich
- Unbesonnener: unachtsam, sorglos handelnde Person
- Gemach: Zimmer
- morsch: brüchig, leicht zerfallend (Holz)
- lohen: aufflammen, brennen
Am 22. Juli 1443 zog ein etwa 6000 Mann starkes eidgenössisches Heer von Westen her über Albisrieden gegen das mit Österreich verbündete Zürich. Wohl war die Stadt auf einen Angriff vorbereitet. Aber falscher Stolz und sträflicher Leichtsinn hätten beinahe dazu geführt, dass nicht nur eine Schlacht verloren ging, sondern die Stadt selbst in die Hände der Feinde gefallen wäre.
Thüring von Hallwyl und Hans von Rechberg, zwei bewährte Heerführer, standen an der Spitze der Zürcher und Österreicher. Sie ordneten an, dass das Fussvolk auf dem stadtseitigen Sihlufer den Feind erwarteten, während die österreichische Reiterei den anrückenden Gegner belästigen und seinen Aufmarsch stören sollte.
Doch die Zürcher setzten sich über diese Befehle hinweg und überquerten die SihI. Beim Siechenhaus St. Jakob liessen sie sich ohne jede Ordnung auf den Wiesen nieder, tranken Wein, assen Brot und Käse und waren guter Dinge wie an einer Kirchweih.
Unterdessen hatten aber die Eidgenossen die österreichische Reiterei zurückgedrängt und brachen nun überraschend gegen das zürcherische Lager durch. Die sorglosen Haufen fanden kaum Zeit, sich auf die Knie zu werfen und zu beten. Nach kurzem Gefecht wurden sie in völliger Auflösung gegen die SihI zurückgeworfen. Jeder dachte nur noch daran, die Mauern der Stadt zu gewinnen. Die fliehenden Zürcher und Österreicher boten ein jämmerliches Schauspiel. Nur einer floh nicht: Bürgermeister Rudolf Stüssi. Sein Hochmut, seine Unversöhnlichkeit und Halsstarrigkeit hatten diesen Bruderkrieg heraufbeschworen und Zürich auf die Seite Österreichs gebracht. Nie hätte es sein Stolz zugegeben, jetzt davonzulaufen. Todesmutig stellte er sich mitten auf der engen Sihlbrücke den Feinden entgegen.
Mit gewaltigen Hieben entledigte er sich der anstürmenden Gegner. Für einen Augenblick schien es, als könnte ein einzelner grimmiger Streiter die Brücke halten. Doch einige flinke Eidgenossen hatten inzwischen mit ihren langen Spiessen von unten her die Bretter des Brückenbodens gelöst. Von neuen Feinden bedrängt, stürzte der Bürgermeister rückwärts in die Falle und wurde im Sihlbett erschlagen.
Mit einem mächtigen und raschen Vorstoss hätten nun die Eidgenossen die Stadt erobern können. Die Zürcher waren Hals über Kopf in die Stadt geflohen. Schon drängten die ersten Verfolger durch das noch immer offene Rennwegtor. Nur die Frau des Torwächters, Anna Ziegler, erkannte die Gefahr. Sie hastete über die dunkle Treppe hinauf in den Turm. Mit letzter Kraft löste sie die Kette des Fallgatters und liess es in die Tiefe rasseln. Sie hatte die Stadt vor dem sicheren Verderben bewahrt.
Allmählich erholten sich die Verteidiger von ihrem Schrecken und fassten neuen Mut. Die Angsthasen krochen aus ihren Verstecken hervor. Rasch wurden Tore und Türme, Zinnen und Wehrgänge bemannt. Die Eidgenossen hatten die beste Gelegenheit, Zürich zu erobern, versäumt. Da sie für eine Belagerung nicht gerüstet waren, zogen sie ab.

- Heerführer: Anführer des Militärs
- Fussvolk: Soldaten zu Fuss
- Reiterei: Soldaten auf Pferden
- Siechenhaus: Mittelalterliches Seuchenspital
- Kirchweih: Fest mit Jahrmarkt und anderen Vergnügungen, das zur Erinnerung an die Einweihung der Kirche gefeiert wird
- Hochmut: Stolz
- Halsstarrigkeit: Hartnäckigkeit, Unnachgiebigkeit
- Bruderkrieg: Krieg innerhalb eines Volkes oder zwischen nah verwandten Völkern
- sich entledigen: sich befreien
- Wehrgang: zur Verteidigung dienender, mit Schiessscharten versehener [überdachter] Gang, der oben an der Innen- oder Aussenseite einer Burg- oder Stadtmauer entlangführt
- bemannen: mit Soldaten besetzen
- Belagerung: eine Stadt, Burg oder Festung einschliessen und umzingelt halten
Während der Belagerung der Stadt Zürich durch die Eidgenossen befanden sich in der Stadt sechzehn redliche, verwegene Bürger, die sich untereinander verpflichteten, die Belagerer zu schädigen und beieinander zu verharren bis in den Tod. Sie wurden die Böcke genannt, weil sie so angriffslustig waren und bei jeder Gelegenheit das feindliche Lager der Eidgenossen durchbrachen. Sie fügten diesen mit ihren Ausfällen und Streifzügen mehr Verdruss und Schaden zu als alle, die in der Stadt waren.
Eines Tages stiessen sie auf einem Beutezug hinter dem Albis auf eine Viehherde von vierzig Häuptern. Geschickt trieben sie die Beute bei der Enge mitten durch das Lager der Feinde der Stadt zu, die sie unbehelligt erreichten. Ein andermal trafen die Böcke unterhalb Altstetten auf drei Wagen mit niederländischem Wein, der für das Berner Lager bestimmt war. Sie nahmen die sieben Fuhrleute gefangen und führten ihren Fang das Hard hinauf bis zur Sihl. Beim Überqueren des Flusses brach jedoch ein Wagenrad entzwei. Kurz entschlossen stellten sich einige von den Böcken an die Achse und den Wagen und brachten auf diese Weise das Gefährt samt der übrigen Beute und den Gefangenen über den Schützenplatz an die Limmat, wo ihnen die Zürcher mit Schiffen zu Hilfe kamen. Auf der untern Brücke beim Rathaus liessen sie den Wein ausschenken und denselben auf einem Turm gegenüber dem Lager der Berner zu deren Ärger ausrufen. Solche und ähnliche Streiche vollbrachten die Böcke täglich, ohne dass ihnen je etwas geschehen wäre.
Als zwischen den Eidgenossen und den Zürchern endlich ein Friede zustande kam, wurden die Böcke davon ausgeschlossen. Sie zerstreuten die Bedenken der Zürcher und meinten, sie würden mit Gottes Hilfe auf eine andere Art zu einem Frieden mit den Eidgenossen kommen.
Nun erwarben sich die Böcke das Schlossrecht zu Hohenkrähen im Hegau. Auf allen Tagsatzungen der Eidgenossen warben sie vergeblich um Frieden. Da liess einmal der Landammann Rudolf Fries von Uri, der den Böcken wohlgesinnt war, verlauten, dass diesen Leuten nur geholfen werden könne, wenn es ihnen gelänge, einen besonders angesehenen Eidgenossen gefangen zu nehmen. Als er eines Tages ein Marktschiff bestieg, um in Zürich Geschäfte zu erledigen, wurde dieses bei Meilen von den Böcken angehalten. Sie forderten den Landammann auf, in ihren Weidling zu steigen.
Rudolf Fries erkannte sogleich den Grund seiner Gefangennahme und meinte lachend: «Ihr lieben Gesellen, euch ist gut raten; aber dass es mich treffen sollte, so war es doch nicht gemeint! Fahret aber hin und behandelt mich recht!» So wurde der Landammann gefangengenommen und auf Hohenkrähen entführt. Von dort aus schrieb er an die Eidgenossen und bat sie, ihn zu befreien und die Böcke in Frieden heimkehren zu lassen. So kam es, dass die Böcke eines Tages unter dem Jubel der Bürger in Zürich einzogen. In ihrer Mitte aber führten sie den freundlich lächelnden Landammann Fries von Uri, dem es unter ihnen gar wohl gefallen hatte.

- Alter Zürichkrieg: Der alte Zürichkrieg fand von 1440 bis 1450 statt und war ein Konflikt zwischen Zürich und der restlichen Eidgenossenschaft
- Belagerung: eine Stadt, Burg oder Festung einschliessen und umzingelt halten
- bemannen: mit Soldaten besetzen
- redlich: anständig, gut, tüchtig
- verwegen: abenteuerlich, furchtlos
- Ausfälle: Angriffe, Attacken
- Verdruss: Ärger, Unmut
- Häupter (Einzahl: Haupt): Köpfe
- unbehelligt: ungehindert, in Ruhe
- Fuhrleute (Einzahl: Fuhrmann): Person, welche Waren mit einem Hand-, Pferde- oder Ochsenkarren transportierte
- Schütze: Person, die mit einer Armbrust, einem Gewehr oder einer Pistole schiesst
- die Böcke erwarben sich das Schlossrecht zu Hohenkrähen im Hegau: Die Burg Hohenkrähen liegt nördlich von Singen in Süddeutschland, nordwestlich des Bodensees. Der damalige Besitzer der Burg, Hans Wilhelm von Friedingen, nahm die Böcke bei sich im Schloss auf
- Tagsatzung: bis 1848 die Versammlung der Abgesandten der Orte (Kantone) der Alten Eidgenossenschaft
- Landammann: gewählter Richter und das Oberhaupt der Landsgemeinde einer selbstverwalteten Region
- Weidling: flaches Boot
- Gesellen (Einzahl: Geselle): Gefährten, Kameraden
Hans Waldmann, Hauptmann der Eidgenossen in Freiburg, drängte in einem Brief Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich, endlich gegen den Feind zu ziehen. Am 17. Juni 1476 schrieb er:
Strenge, fürsichtige, ehrsame und weise, gnädige, liebe Herren. Ich anerbiete Eurer ehrsamen Weisheit meine untertänigen, willigen Dienste, und was ich vermag mit Leib und mit Gut, sei Eurer Weisheit immer vor allem bereit, gnädige, liebe Herren. Ich füge Eurer Weisheit zu wissen, dass die biderben Leute zu Murten heftig bedrängt werden von dem Herzog. Denn der Herzog hat bis zu ihnen gegraben an ihr Bollwerk, sodass sie mit Steinen gegeneinander werfen; zudem so hat er den besten Turm in vier Schüssen niedergeschossen, auch andere Türme und ihre Mauer stark zerschossen, dass wir für sie grosses Übel besorgen. Liebe Herren, so haben unsere Eidgenossen von Bern uns im Zusatz und die von Freiburg gebeten, dass wir zu ihnen ziehen möchten, so wollten sie über das Wasser (Saane) und sich bei unsern Feinden lagern. Das haben wir abgeschlagen mit den Worten, wir wollten unserer Herren warten und ohne sie nichts handeln, und raten ihnen auch, dass sie nichts vornähmen, bis unsere Herren kämen; so wollten wir nichtsdestoweniger ein treues Aufsehen auf sie haben, und wenn ihnen irgend etwas begegnete, es sei Tag oder Nacht, ihnen treulich zuziehen und Leib und Gut zu ihnen setzen. Also erwarte ich, sie kommen dem nach. Darum, gnädige Herren, beeilt Euch mit Ziehen, dass Ihr nicht die hintersten seid. Gegeben am Montag nach unseres Herrn Fronleichnamstag, in der siebenten Stunde nachmittags im 76. Jahre.
Euer allerwilliger Hans Waldmann Hauptmann zu Freiburg Am 19. Juni brachen die Zürcher auf. In drei Tagen marschierten gegen 2000 Mann nach Bern. Hans Waldmann ritt ihnen entgegen. Noch am Abend des dritten Tages zogen sie nach kurzer Rast weiter in die regnerische Nacht hinaus und erreichten im Morgengrauen das eidgenössische Heerlager bei Ulmiz. Doch auch jetzt war den marschtüchtigen Zürchern keine Ruhe vergönnt. Das eidgenössische Heer wurde in Schlachtordnung aufgestellt und am frühen Nachmittag gegen den Feind geführt. Dabei fiel Hans Waldmann die Ehre zu, die Hauptmacht der Eidgenossen zu leiten. Gross war sein Ruhm, als er nach der siegreichen Schlacht mit den tapferen Zürchern heimwärts zog.

- Hans Waldmann (1435–1489): Heerführer der Alten Eidgenossenschaft und 1483–1489 Bürgermeister von Zürich
- Eure Weisheit: veraltete Anrede für Respektspersonen
- biderb: anständig, aufrichtig
- Bollwerk: Festung, Befestigung