«Ich bin Selma.» Die Gastgeberin des Restaurant Schwamedinge mag es unkompliziert und bietet dem Besuch gleich das Du an. Selma Ölemezler, die Mieterin des Lokals, setzt sich an den Tisch, bittet einen Mitarbeiter, Kaffee und Gipfeli zu bringen, und beginnt zu erzählen.
Es ist 8.30 Uhr, das Restaurant ist schon gut gefüllt. Man trinkt Kaffee, isst ein Gipfeli und plaudert. An der Bar wird auch schon das eine oder andere Bier getrunken. Die meisten gehören zur Stammkundschaft. So wie eine ältere Frau, die mit ihrem Rollator eintritt. Selma steht sofort auf und begleitet sie zu ihrem Tisch. Dabei erzählt ihr die Kundin, sie habe letzte Woche einen Herzschrittmacher erhalten. Selma hört aufmerksam zu und redet noch einige Momente mit ihr, bevor sie sich wieder an unseren Tisch setzt.
Die Szene ist typisch: Selma kennt alle, alle kennen Selma. In ihr Lokal kommt man nicht nur fürs Essen und Trinken. Man kommt auch, um ein paar Worte zu wechseln, unter Leuten zu sein. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Der Austausch mit den Gästen ist für Selma ebenso wichtig. Sie sei letzte Woche in den Ferien gewesen, erklärt die Gastgeberin. Jetzt müsse sie sich wieder auf den neusten Stand bringen. «Aber später», sagt Selma und setzt sich mit dem Rücken zum Gastraum. «Sonst würden wir hier kein Gespräch führen können. Sollte etwas Dringendes auftreten, kümmert sich mein Mann Erhan darum.» Sie lächelt und deutet auf ihren Ehemann, der an Bar sitzt und sich mit einer Angestellten unterhält.
Zunächst war Selma gar nicht sicher, ob sie sich für das Lokal bewerben soll. Dunkel und wenig einladend sei es gewesen, als sie es besichtigt habe. Doch die Stadt plante bereits einen Umbau. Die Aussenwand wurde grosszügig verglast, sodass nun viel Licht hereinkommt. Ausserdem hätte sie mit dem Restaurant Dorflinde in Oerlikon, dass sie damals bereits führte, eigentlich schon genug zu tun gehabt. Es sei auch immer noch ihr erstes Baby. Obwohl sie mittlerweile viel mehr Zeit in Schwamendingen verbringt. In die «Dorflinde» gehe sie nur noch ein- bis zweimal am Tag, um nach dem Rechten zu schauen und die dortigen Stammkunden zu sehen.
Aber nicht nur die Kundschaft ist loyal, auch ihre Mitarbeitenden sind ihr seit Jahren treu. Zu ihrem fünfzigsten Geburtstag schmissen sie eine grosse Party. Damit habe sie gar nicht gerechnet, gibt Selma zu, die Überraschung sei definitiv gelungen. Normalerweise macht sie kein grosses Tamtam um ihre Geburtstage. Nicht weil sie mit dem Älterwerden ein Problem hätte. «Ich sage immer, ich bin nicht älter geworden. Ich habe an Lebenserfahrung gewonnen.» Sie mag es nicht, wenn um sie ein grosser Wirbel gemacht wird. An ihrem Sechzigsten fuhr sie deshalb mit ihrem Mann in die Ferien.
Mit 16 Jahren kam Selma, gebürtige Türkin, in die Schweiz, wo sie im damaligen Café El Greco (heute: Café Lang) am Limmatplatz anfangen konnte. Zuerst im Buffet, danach im Service. Auf den Rat des Inhabers hin machte sie das Wirtepatent. Er habe ihr immer wieder gesagt, sie sei schlau und schaffe es. «Ich hätte mir das niemals zugetraut.» Sie hielt ihr Deutsch für nicht gut genug. Doch sie packte die Prüfung und führte danach das «El Greco» vier Jahre lang, bevor der Sohn des damaligen Inhabers die Geschäftsleitung übernahm. Als die Stadt den Betrieb an der Dorflindenstrasse ausschrieb, bewarb sie sich und setzte sich gegen die anderen Bewerbungen durch. Vor 22 Jahren kam das Lokal am Schwamendingerplatz dazu.
Die Tochter hat bis zur Geburt des zweiten Kindes im Restaurant Schwamedinge gearbeitet. Ihr Sohn arbeitet als «Internetsecurity-Mensch», Selma kennt die genaue Bezeichnung nicht. «Irgendetwas mit dem Internet bei einer grossen medizinischen Firma. So genau komme ich da nicht draus.» Auch ihr Mobiltelefon versteht sie nicht immer und lacht. Aber egal: Ihr Enkel helfe ihr da jeweils weiter. Man merkt ihr den Stolz auf ihre Familie an. Auch ein bisschen zur Familie gehören die Gäste, die Selma von morgens bis abends bewirtet. Stets hat sie für sie ein offenes Ohr oder ein freundschaftliches Wort parat.
Ob ihr das alles nicht manchmal zu viel werde? Wieder lacht sie und winkt ab: «Ich kann nicht mehr als zehn Tage weg sein. Sonst werde ich hibbelig.» Nur die eine Woche Sommerferien in der Türkei brauche sie, mit einem guten Buch am Strand. In den restlichen Ferien bestimmen jeweils ihr Mann und ihr Enkel das Programm. Im «Schwamedinge» jedoch hat Selma das Zepter in der Hand. Als hätte sie Augen im Rücken, wendet sie sich um, als ein alter Bekannter ins Lokal tritt. Ihn hat sie auch seit zwei Wochen nicht mehr gesehen und will unbedingt wissen, was es Neues gibt.