Ein strahlender Herbsttag. Die Sonne tränkt die Bäume in bunte Farben, die gelben Hausfassaden des «Erismannhofs» leuchten um die Wette. Autos brausen vorbei. Der Verkehr prägt die Wohnsiedlung, in den Jahren 1926 bis 1927 direkt neben dem Bahneinschnitt im Kreis 4 errichtet, seit jeher. Ein Bewohner, der vor dem Haus sein Velo flickt, nimmt den Geräuschpegel scheinbar gelassen. «Hoi!», grüsst er freundlich. Ob Frau Bortolussi hier wohne, will der Reporter wissen. «Elisa? Ja, im dritten Stock.» Ein Summen gibt den Weg ins Treppenhaus frei. Die Stufen führen hoch, vorbei an einheitlich mit den Namen der Bewohnenden beschrifteten Wohnungstüren, immer zwei pro Etage. Eine steht einen Spalt offen. «Herein!», ruft es von drinnen.

31 Quadratmeter pro Kopf
Hinter der Türe betritt man eine kleine Diele, gerade genug gross, um Schuhe und Jacken zu deponieren. Aus der Küche duftet es nach Kaffee. «Ich bin Elisa», stellt sich die Mieterin vor. Zusammen mit Kimi, ihrem neunjährigen Sohn, wohnt sie in einer 3-Zimmer-Wohnung mit 61 Quadratmetern. Die Beiden belegen damit deutlich weniger Wohnraum als der Durchschnitt der Zürcher Bevölkerung, die 40 Quadratmeter beansprucht. Dennoch wirkt die Wohnung nicht überfüllt. Man würde auch nicht ahnen, dass Elisa und Kimi Bortolussi erst vor kurzem eingezogen sind; alles hat bereits seinen Platz gefunden. An den Wänden hängen Bilder, die Lampen sind montiert, Umzugskisten sucht man vergebens.
Wir setzen uns in die Küche, die warme Herbstsonne scheint durch das offene Fenster. «Zum Glück konnten wir im ‹Erismannhof› bleiben», sagt Elisa erleichtert. Als der Bescheid kam, sei ihr ein Stein vom Herzen gefallen. Zuvor wohnten sie zu dritt. Doch als die Wohnpartnerin mit ihrem Freund zusammenzog, war die 4-Zimmer-Wohnung unterbelegt. Das städtische Mietreglement schreibt vor, wie viele Personen in einer Wohnung leben müssen: Anzahl Zimmer minus eins, lautet die Regel. Für Elisa und Kimi bedeutete dies: entweder in eine kleinere städtische Wohnung wechseln oder auf dem Markt etwas Grösseres suchen.
Das Glück auf ihrer Seite
Elisa musste nicht lange überlegen und meldete sich bei ihrer Bewirtschafterin. Städtische Mietende erhalten zwei Tauschangebote, wenn sie umziehen wollen, um die Mietbedingungen zu erfüllen. Die meisten möchten wie Elisa nicht aus dem Quartier wegziehen. Erfüllen kann die Bewirtschaftung diesen Wunsch aber nur, wenn eine passende Wohnung frei wird und die Vermietungskriterien erfüllt sind. Das Glück war auf Elisas und Kimis Seite. Sie mussten lediglich auf die andere Seite des Innenhofs der Wohnsiedlung zügeln.
Der grosszügige Innenhof ist in der warmen Jahreszeit Dreh- und Angelpunkt Siedlungslebens – und einer der Gründe, warum die Beiden unbedingt hierbleiben wollten. Baumreihen säumen die Ränder. Hüfthohe Natursteinmauern schaffen verschiedene Bereiche. Es wird grilliert und Pingpong gespielt. Im Frühling blühen japanische Kirschbäume. Kurzum: Ein einziger grosser Tummelplatz für die Kinder der Nachbarschaft. Für Elisa ist praktisch, dass sie den Hof auch aus der Wohnung überblicken kann. Wenn das Essen parat ist, ruft sie aus dem Fenster.
«Wir können aufeinander zählen»
Die lebendige Nachbarschaft hat für Elisa einen willkommenen Nebeneffekt: «Statt am Computer, verbringt Kimi die Zeit lieber mit seinen Freunden.» Einzigartig am «Erismannhof» ist für sie die gegenseitige Unterstützung der Bewohnerschaft. «Wir können aufeinander zählen», erklärt Elisa. Ein unerwarteter Termin, bei der Arbeit wird es später, oder Elisa geht mit einer Freundin ins Kino: kein Problem. Jemand ist immer zur Stelle und schaut zu Kimi. Umgekehrt kommen seine Freunde zum Mittagessen oder feiern abends eine Pyjamaparty. «Das ist der Spirit des ‹Erismannhofs›!», fasst Elisa zusammen.
Zum Glück konnten wir im ‹Erismannhof› bleiben.
Wie entsteht ein solcher Hausgeist? Die bunt gemischte Mieterschaft mache den Unterschied: Handwerker, Büroangestellte, Wohngemeinschaften, Singles, unterschiedliche Nationalitäten – kurz: unterschiedliche Menschen, die einander ergänzen und sich manchmal aneinander reiben. «Das Haus ist ringhörig», erklärt Elisa. «Nur schon das fordert Rücksichtnahme und Gemeinsinn.» Diesen Gemeinsinn kennt Elisa, die auf einem Bauernhof in einem Nest bei Triest aufgewachsen ist, von Kindesbeinen an. «Die ganze Familie, von den Kindern bis zu den Grosseltern, alle packten an – diese gegenseitige Unterstützung spüre ich auch hier.» Dank der guten Nachbarschaft bringt die alleinerziehende Mutter ohne Verwandte vor Ort Familie und Arbeit unter einen Hut.
In Zürich sesshaft geworden
Nach Zürich kommt Elisa vor zehn Jahren als Artist in Residence. Sie lernt den Vater von Kimi kennen, wird nach Jahren in der Ferne sesshaft. Davor lebt sie in Latein- und Südamerika, verkauft selbsthergestellten Schmuck, macht Strassenmusik – und lernt ein Handwerk, das ihr Türen öffnet: das Weben. In den sozialen Medien wird das Modehaus Missoni auf ihre Arbeiten aufmerksam. Bald entwirft und produziert Elisa als Freelancerin gewobene Lampenschirme für dessen Innenausstattungslinie. Ein Auftrag von Missoni: für viele eine Verlockung, in der glamourösen Modewelt fest Fuss zu fassen. Elisa zieht stattdessen nach Lagos, Nigeria, und führt Jugendliche und alleinerziehende Mütter ins Siebdruckhandwerk ein.
In Zürich ist Elisa mit ihrem Label Externer Link:Thea Kuta als Textildesignerin tätig und entwickelt Licht- und Klanginstallationen. Weil Elisa eben lieber ihren Herzensangelegenheiten nachgeht als, was gut bezahlt ist, hat sie mehrere Jobs: Sie arbeitet im Externer Link:Migros Museum für Gegenwartskunst und bei der Distributionsfirma für Kulturwerbung Externer Link:Alive. Obendrein spielt die Italienerin in zwei Musikbands – «Schlamm» und «Sin Zona» – elektrische Violine. Trotz allem wirkt Elisa wie die Ruhe in Person. Sie und Kimi posieren an diesem prächtigen Herbsttag geduldig für den Fotografen, geben dem Reporter breitwillig Auskunft. Schliesslich sticht Kimi aber doch der Hafer: «Kann ich jetzt gehen?» Und weg ist er in den Siedlungshof.