Sven Brenner ist Fachexperte Demenz im Gesundheitszentrum für das Alter Bombach.
Sven, du hast dich im Rahmen deiner Master-Arbeit vertieft mit dem Thema «Menschen mit Demenz und Migrationsbiografie» befasst. Gibt es grundlegende Gemeinsamkeiten dieser Personengruppe?
Ich möchte vorausschicken, dass Menschen mit einer Migrationsbiografie natürlich keine homogene Gruppe sind. In Bezug auf die aktuelle Situation in der Schweiz lassen sich dennoch Aussagen machen, die auf einen Grossteil von ihnen zutreffen. Derzeit stammen die meisten Menschen mit Migrationsbiografie in Schweizer Langzeitinstitutionen aus Italien, wobei der Anteil aus anderen Regionen stetig zunimmt. Bei vielen der betroffenen Länder haben die traditionellen Versorgungssysteme zur Folge, dass Menschen tendenziell später in eine Langzeitinstitution eintreten und die Demenz entsprechend weiter fortgeschritten ist.
Welche Herausforderungen und Chancen bringt das für die Pflege und Betreuung mit sich?
Mit fortschreitender Demenz nehmen die verbalen Ausdrucksmöglichkeiten in der erlernten Sprache ab und Betroffene fallen in ihre Muttersprache zurück. Die Angehörigen einzubeziehen, ist bei Demenz in jedem Fall wichtig. Bei Menschen mit Migrationsbiografie, die kein Deutsch (mehr) sprechen, kommt dieser Zusammenarbeit eine noch grössere Bedeutung zu. Der Aufbau einer Vertrauensbeziehung ist dann nicht nur für die sprachliche Verständigung wichtig, sondern auch, um Kulturwissen und individuelle Vorlieben der betreuten Person in Erfahrung zu bringen.
Gibt es Situationen, in denen der kulturelle Hintergrund einen besonders starken Einfluss hat?
Definitiv. Zum Beispiel in Palliativ-Situationen. In vielen Kulturen ist es so, dass das Leben an sich einen sehr hohen Stellenwert hat, die Lebensqualität aber eine eher untergeordnete Rolle spielt. Das bedeutet, dass die Pflegenden zum Wohl der Bewohnenden zuweilen eine andere Argumentationskette durchlaufen, etwa wenn es um die Vor- und Nachteile einer Spitaleinweisung geht. Dabei ist jedoch wichtig, den Angehörigen nicht die eigene Haltung überstülpen zu wollen.
Wir haben über die Angehörigen als Ressource gesprochen, wie sieht es mit den Mitarbeitenden aus?
Gute Pflege ist Lebensqualität. Was die Lebensqualität eines Menschen verbessert, sind neben einer professionellen Pflege die vielen kleinen Dinge. Ich empfehle daher, nicht zu kompliziert zu denken, sondern praxisnah und niederschwellig vorzugehen. Zum Beispiel religiöse Gepflogenheiten und kulinarische Vorlieben im Alltag zu berücksichtigen. Dafür schlage ich vor, dass die Institutionen eine Liste der Mitarbeitenden führen, auf der vermerkt ist, wer welchen kulturellen Hintergrund hat und welche Sprache spricht. So können auch das Kulturwissen und die Sprachkompetenzen aus Hauswirtschaft oder technischem Dienst zum Wohle der Bewohnenden genutzt werden.
Was, wenn niemand in der Organisation die Sprache eines Bewohners spricht?
In diesen Fällen können elektronische Hilfsmittel wie Tablets mit Übersetzungsprogrammen genutzt werden. Oder ganz einfach Kärtchen, die die wichtigsten Grundbedürfnisse bildlich darstellen. Um solche Kärtchen zu erstellen, arbeiten wir mit den Angehörigen zusammen.
Wie kann die transkulturelle Kompetenz in Institutionen gestärkt werden?
Entscheidend ist sicher, ganz grundlegend das Bewusstsein dafür zu fördern, dass nicht alle Menschen gleich sozialisiert wurden und ihnen je nach kulturellem Hintergrund unterschiedliche Dinge wichtig sind. Vorgesetzte sollten zudem bewusst Raum und Zeit schaffen, damit Pflegende sich Kulturwissen aneignen können. Die eigene Kulturkompetenz lässt sich übrigens anhand von Online-Tools testen. Für die Zukunft würde ich es begrüssen, wenn das Thema in der Grundausbildung vertiefter in den Lehrplan aufgenommen würde, da es immer wichtiger wird.
Dieser Beitrag ist in NOVAcura, der Schweizer Fachzeitschrift der Pflege, erschienen.
Sven Brenner ist seit 2019 als Fachexperte Demenz im Gesundheitszentrum für das Alter Bombach der Stadt Zürich tätig. Zur Erlangung des Master of Science in Pflege hat er sich anhand von qualitativen Interviews und Fachliteratur mit den Chancen und Herausforderungen in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz und einer Migrationsbiografie in Langzeitinstitutionen befasst.
Rund 25'000 Menschen in der Schweiz, die mit Demenz leben, haben eine Migrationsbiografie – Tendenz steigend. Derzeit finden ihre Bedürfnisse in der Forschung jedoch noch wenig Beachtung. Im Interview erklärt Sven Brenner, Fachexperte Demenz im Gesundheitszentrum für das Alter Bombach, warum es wichtig ist, mehr über diese vulnerable Gruppe zu erfahren und welche niederschwelligen Möglichkeiten in der Pflege und Betreuung ausgeschöpft werden können.